ÖSG: Planungsinstrument ohne ambulante Steuerungskraft?
Der ÖSG versteht sich als zentrales Planungsinstrument der österreichischen Gesundheitsversorgung – auch für den ambulanten Bereich. Ein Blick auf seine Wirkungsebene zeigt jedoch vor allem eine sorgfältige Fortschreibung des Bestehenden.
Was der ÖSG verspricht – und was er bewirkt
Der Österreichische Strukturplan Gesundheit (ÖSG) ist ambitioniert formuliert. Er nennt sich das „zentrale Planungsinstrument“ für die Gesundheitsversorgung, mit verbindlichen Vorgaben für Qualität, Struktur und Leistung. Als solcher bildet er den verbindlichen Rahmen für die Regionalen Strukturpläne Gesundheit (RSG) auf Ebene der Bundesländer, die die konkrete Gesundheitsstruktur- und Leistungsangebotsplanung übernehmen sollen. Und doch scheint seine eigentliche Wirkung nicht in der Veränderung, sondern in der Verwaltung des Bestehenden zu liegen.
Das konkrete Beispiel: Die chronische Nierenerkrankung. Im Mai 2025 wird von der WHO darüber abgestimmt sie als eine von sechs global prioritären „non-communicable diseases“ einzustufen, neben Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In den relevanten Kapiteln des ÖSG (z.B. Aufgabenprofilen) zur ambulanten Versorgung kommt sie quasi nicht vor, obwohl die Abbildung der Versorgung der chronischen Nierenerkrankung durchaus in die ÖSG-Planungslogik passen würde.
Was auf den ersten Blick wie ein Einzelfall wirkt, verweist auf ein tiefer liegendes Problem. Eines, das sich auch bei anderen wichtigen chronischen Erkrankungen beobachten lässt, etwa im internistischen Bereich: von Diabetes mellitus und Bluthochdruck bis hin zu rheumatologischen Erkrankungen.
Wie geplant wird – und was fehlt
Um als zentrales Planungsinstrument für die ambulante Versorgung in Österreich wirken zu können, macht der ÖSG richtigerweise Vorgaben über die sogenannte "Planung" (Planungsrichtwerte) und "Qualitätskriterien" (Aufgabenprofile und Leistungsmatrix - ambulant).
Leider wird weder das Kapitel zu den Planungsrichtwerten noch jenes zu den Qualitätskriterien der Versorgung chronisch Nierenkranker gerecht – einer Erkrankung mit relevantem ambulanten Versorgungsbedarf, von der niederschwelligen Primärversorgung bis hin zur spitalsambulanten Fachversorgung. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Beide Kapitel sind methodisch – und vielleicht auch in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung – nicht darauf angelegt, die ambulante Versorgung wichtiger chronischer Erkrankungen systematisch zu steuern.
Richtwerte: Medizinischer Fortschritt bleibt außen vor
Die Planungsrichtwerte im ÖSG beruhen im Kern auf der bestehenden Versorgungsdichte – konkret: der Zahl ärztlicher ambulanter Versorgungseinheiten (ÄAVE) je 100.000 Einwohner:innen, ohne Wien. Adjustiert wird dieser Ausgangswert lediglich um zwei bekannte Faktoren: Bevölkerungsprognose und eine angenommene Umlagerung aus dem stationären Bereich. (Quelle: Methodenband zum ÖSG 2023, S.17-20)
Neue Versorgungsziele werden nicht formuliert, evidenzbasierte Fortschritte in der Medizin bleiben unbeachtet.
So entsteht ein Bild der Zukunft, das sich fast vollständig aus der Gegenwart speist – ergänzt durch demografische Modellierung und systeminterne Verschiebungen. Der Bedarf bleibt außen vor. Und mit ihm: der Fortschritt.
Das eigene Prinzip der Angebotsplanung – der „offene Patientenzugang zum evidenzgesicherten medizinischen Fortschritt“ – bleibt so folgenlos.
Das Planungsinstrument gerät damit in die Nähe eines rückgekoppelten Systems: Es bestätigt vor allem die Voraussetzungen, aus denen es gespeist wird. Ein System, das sich an sich selbst orientiert, legitimiert strukturelle Mängel – nicht aus bösem Willen, sondern aus seiner Methodik heraus.
Im Kern handelt es sich um ein Statistikinstrument. Es beschreibt, was vorhanden ist – nicht, was notwendig wäre. Es erkennt nicht, dass der Status quo nicht neutral ist.
Wenn man sich die Versorgung der chronischen Nierenerkrankung in Österreich ansieht, zeigt sich exemplarisch, wohin eine Planung führt, die sich primär am Bestehenden orientiert (siehe dazu auch Österreichischer Nephrologie-Report 2024, Kapitel „Ambulante Versorgung chronisch Nierenkranker“):
- Früherkennung: Nur rund 17 % der jährlich zu screenenden Risikopatient:innen werden tatsächlich auf das Vorliegen einer Albuminurie (Basis-Diagnostik der chronischen Nierenerkrankung) untersucht.
- Therapie: Lediglich ein Viertel bis ein Drittel jener Patient:innen, für die gemäß Leitlinien eine Therapie mit SGLT2-Inhibitoren (wichtige Säule in der Therapie der chronischen Nierenerkrankung) empfohlen wird, erhält diese auch.
Rechnet man z.B. mit, dass etwa 2,37 Millionen Menschen in Österreich einen der drei großen Risikofaktoren (Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauferkrankung) für eine chronische Nierenerkrankung aufweisen, wird klar: Die erforderliche Erhöhung der Früherkennungsrate würde für die 3.761 ÄAVE Kassen-Allgemeinmediziner:innen einen spürbaren Mehraufwand bedeuten – ein Aufwand, der in der Versorgungsplanung abgebildet werden müsste. Ähnliches gilt für die therapeutische Versorgung diagnostizierter Patient:innen.
Doch genau das bleibt aus. Das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit, das die integrative regionale Versorgungsplanung eigentlich leiten sollte, wird so verfehlt.
Hinzu kommt: Der ÖSG definiert seine Planungsrichtwerte mit einer Bandbreite von plus/minus 30 %. Das eröffnet in der Umsetzung über die jeweiligen RSGs Spielräume, die in der Praxis nahezu jede Versorgungssituation rechtfertigen können. Steuerung sieht anders aus.
Richtwerte: Granularität der Planung limitiert
Für eine adäquate Versorgung chronisch nierenkranker Menschen (in Österreich sind etwa 800 bis 970 Tausend betroffen) bedarf es sowohl einer niederschwelligen ambulanten Primärversorgung (z.B. Früherkennung, Therapie) als auch einer ambulanten Fachversorgung (spezielle Versorgung ausgewählter chronisch nierenkranker Patient:innen, z.B. weit fortgeschrittene Erkrankung oder ursächlich behandelbar).
Richtwerte für die ambulante internistische Fachversorgung beschränken sich auf die Innere Medizin als Ganzes und die Pneumologie. Bei elf Sonderfächern der Inneren Medizin – etwa Kardiologie, Gastroenterologie, Rheumatologie oder Nephrologie – mit jeweils eigener Facharztprüfung erscheint das aus Planungsperspektive bereits auf den ersten Blick auffällig. Berücksichtigt man zusätzlich, dass zwischen extramuraler (Kassenversorgung) und intramuraler (spitalsambulanter) ambulanter Versorgung nicht unterschieden wird, wird deutlich: Für die einzelnen internistischen Sonderfächer existieren de facto keine bundesweiten Vorgaben zur ambulanten Versorgungsplanung – mit Ausnahme der Pneumologie.
Sowohl die spitalsambulante als auch die extramurale Planung der nephrologischen Versorgung unterliegt damit regionaler Zuständigkeit. In Realität sieht das dann so aus, dass Kassen-Internisten mit Zusatz-/Additivfach Nephrologie im Vergleich zwischen den Bundesländern unausgewogen verteilt sind. Damit wird auch das "Prinzip der Versorgungsgerechtigkeit" nicht erreicht. Von der bundesweiten Planung einer bedarfsgerechten extra- und intramuralen ambulanten nephrologischen Versorgung ist hier noch gar nicht die Rede (siehe oben).
Im Fall der chronischen Nierenerkrankung bedeutet das, dass messbare Versorgungslücken in der ambulanten Fachversorgung aktuell nicht über Vorgaben des ÖSG geschlossen werden können.
Qualitätskriterien: formell vorhanden – inhaltlich offen
Neben den Planungsrichtwerten sieht der ÖSG auch sogenannte „Qualitätskriterien“ vor. Sie sollen – so die Idee – die verbindliche fachliche Grundlage für Versorgungsaufträge liefern, die auf regionaler Ebene insbesondere in den Regionalen Strukturplänen Gesundheit, Krankenanstaltenplänen, Gesamtverträgen und Einzelverträgen (wahrscheinlich von Bundesländern und Trägern) festzulegen sind (siehe ÖSG 2023, S. 82).
Zwei Instrumente stehen dafür zur Verfügung:
- die Aufgabenprofile, welche Tätigkeiten der Primär- und ambulanten Fachversorgung aggregiert beschreiben
- die Leistungsmatrix - ambulant, die ambulant erbringbare ärztliche Leistungen pro Fachbereich definiert und zusätzlich über zugeordnete Strukturqualitätskriterien (Qualifikation und Ausstattung) als Instrument zur Qualitätssicherung von Leistungen im ambulanten Bereich dient
Doch auch hier zeigt sich: Für eine systemisch relevante Erkrankung wie die chronische Nierenerkrankung bleibt beides erstaunlich unbestimmt.
In den Aufgabenprofilen findet man für die Primärversorgung immerhin einige Hinweise auf potenziell relevante Aufgabenbereiche – etwa Langzeitbetreuung chronisch Kranker, zum Medikationsmanagement oder zur Identifizierung von und Beratung bei Lebensstil- bzw. Lebensumfeld-assoziierten Risiken (z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes). Eine stringente Berücksichtigung der Versorgung der chronischen Nierenerkrankung lässt sich daraus aber nicht ableiten, obwohl ein Großteil der Patient:innen (wahrscheinlich etwa 85%) in der Primärversorgung zu versorgen wären.
Noch leerer bleibt das Profil der Inneren Medizin. Unter den sogenannten „Spezialaufgaben“ scheint zwar das Wort „Nephrologie“ auf – aber ohne jede inhaltliche Ausformulierung. Keine Konkretisierung des notwendigen Aufgabenspektrums, keine Angaben zu zusätzlich erforderlichen Qualifikationen oder Infrastruktur, kein Hinweis auf eine Abstufung von Versorgungsaufgaben. Der ÖSG überlässt diesen Teil damit faktisch den Ländern – mit dem Hinweis, solche speziellen Aufgaben „nach regionalen Erfordernissen“ in den Versorgungsaufträgen festzulegen. Doch ohne bundeseinheitliche Basis fehlt der Rahmen, an dem sich regionale Planung orientieren könnte. Und es stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, dass sich jedes Bundesland – unabhängig von Größe oder Versorgungslage – dazu eigene Detailpositionen erarbeiten muss – anstatt auf eine gemeinsame fachliche Grundlage zurückgreifen zu können. Wie oben beschrieben sind Kassen-Internist:innen mit nephrologischer Zusatzqualifikation bereits heute zwischen den Bundesländern unausgewogen verteilt. Die fehlende Vorgabe von klaren Aufgabenprofilen erschwert die regionale Planung.
Auch die Leistungsmatrix ambulant bietet keine Abhilfe. Keine Abbildungen von relevanten Leistungen im Bereich der Primärversorgung. Auch die der Fachrichtung Innere Medizin (IM-allg.) zugeordneten Leistungen bilden als relevante Leistungen lediglich Dialyseleistungen aus dem Fach der Nephrologie (IM-NEP) ab, die nur für einen Bruchteil (maximal 1%) der nierenkranken Patient:innen in Frage kommen. Zentrale Bausteine einer leitliniengerechten, abgestuften Versorgung chronisch Nierenkranker – von der Früherkennung und Therapie in der Primärversorgung bis zur erweiterten Diagnostik und Therapie in der Fachversorgung – kommen nicht vor. Damit fehlt jede Grundlage, um diese Leistungen im Rahmen von Gesamt- oder Einzelverträgen verbindlich zu definieren.
Das Ergebnis ist ein Raster, dem bislang die Richtung fehlt, um als verbindliches Steuerungsinstrument zu wirken. Zu grob, um chronische Erkrankungen abgestuft abzubilden. Zu leer, um Versorgungslücken strukturell zu fassen. Und zu unbestimmt, um Fortschritt in der Versorgung überhaupt zu adressieren.
Gerade bei Erkrankungen mit dieser Verbreitung und Systemrelevanz – also Volkskrankheiten – braucht es eine differenzierte, evidenzgestützte Aufgaben- und Leistungsplanung. Und zwar über alle Versorgungsstufen hinweg: von der niederschwelligen Früherkennung in der Primärversorgung bis zur spezialisierten spitalsambulanten Fachversorgung.
Ein zentrales Planungsinstrument kann nicht jeden Versorgungsbereich im Detail abbilden – aber es muss dort präzise sein, wo die häufigsten und folgenreichsten Erkrankungen liegen. Volkskrankheiten gehören in die Mitte der Planungslogik – nicht an ihren Rand. Sie müssen strukturiert, evidenzbasiert und regelmäßig aktualisiert im ÖSG abgebildet werden, wenn dieser seinem Anspruch gerecht werden will.
Solange diese Instrumente dafür nicht genutzt – oder nicht weiterentwickelt – werden, bleiben auch die Qualitätskriterien formell vorhanden, aber inhaltlich offen.
Versorgung braucht Auftrag – nicht nur Struktur
Die Schwächen des ÖSG liegen nicht nur in seiner Methodik – sondern auch in einer spürbaren Zurückhaltung, verbindliche Planung auf Bundesebene zu verankern.
Was als zentrales Planungsinstrument konzipiert ist, bleibt im Kern ein Dokument zur Fortschreibung des Bestehenden. Die Planungsrichtwerte stützen sich auf vergangene Versorgungsdichten, ignorieren evidenzbasierte Fortschritte und erzeugen mit ihren breiten Spielräumen von plus/minus 30 % mehr Deutungsoffenheit als Steuerungskraft. Die Fachrichtung Nephrologie wird dabei nicht einmal als eigenständige Versorgungsdimension geführt und fällt damit – mangels bundesweiter Vorgaben – in den Ermessensspielraum der Länder.
Auch die Qualitätskriterien verfehlen ihren Zweck. Anstatt klare Aufgabenprofile und Leistungen für chronische Erkrankungen wie die Nierenerkrankung zu definieren, verweisen sie zum Teil auf eine Festlegung von Versorgungsaufträgen nach regionalen Erfordernissen. Gerade dort, wo Versorgungsprobleme sichtbar und strukturell manifest sind, fehlt damit jede bundeseinheitliche Planungsbasis.
Das wirkt weniger wie ein methodisches Versehen – und mehr wie Ausdruck eines bislang fehlenden politischen Willens, Verantwortung für die Planung der ambulanten Versorgung von Volkskrankheiten – wie etwa der chronischen Nierenerkrankung – verbindlich auf Bundesebene zu übernehmen.
Dabei wären die nächsten Schritte längst klar:
- den sektorübergreifenden Versorgungsbedarf von der Früherkennung bis zur Spezialversorgung evidenzbasiert ableiten,
- die Aufgaben entlang der Versorgungskette eindeutig den relevanten Fachrichtungen – Primärversorgung, Innere Medizin, Nephrologie – und Versorgungsstufen zuweisen,
- den daraus abgeleiteten Ressourcenbedarf – inklusive des damit verbundenen Mehraufwands – je Fachrichtung und Versorgungsstufe modellieren – etwa anhand von Daten regionaler Pilotprojekte,
- und auf dieser Grundlage die Planungsrichtwerte und Qualitätskriterien im ÖSG so anpassen, dass Versorgungsaufträge regional evidenzbasiert definiert werden können.
Wer die Versorgung von Patient:innen wirklich steuern will – wie es etwa auch ÖGK Obmann A. Huss jüngst mit dem Vorschlag der Rückkehr zur Überweisungspflicht diskutiert hat ("gut gesteuerte, gelenkte Patientinnen und Patienten schneller zu einer Diagnose kommen") – kommt um diese Schritte nicht herum. Denn auch Steuerung braucht ein Ziel. Ohne ausreichende Kapazitäten – etwa in der Primärversorgung – und verbindlich definierte Versorgungsaufträge bleibt sie bloße Umlenkung im Bestehenden.
Solange der ÖSG das nicht leistet, bleibt er ein formales Planungsinstrument ohne Wirkung. Ein Rahmen ohne Richtung. Ein Planungsdokument, das Versorgung strukturieren will – und dabei vor allem ihre Defizite konserviert.
Die Frage ist nicht, ob der ÖSG reformiert werden sollte – sondern wann der politische Wille entsteht, ihn als das zu behandeln, was er sein sollte: ein Instrument zur aktiven Gestaltung der Gesundheitsversorgung.
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