Therapie Aktiv: Kleine Änderung, große Wirkung
Optional vorgesehen, medizinisch notwendig – wie die zwei Laborwerte eGFR und UACR im Diabetes-DMP Leben retten könnten.
Zwei Werte, zwei Felder – und eine Versorgungslücke, die nicht sein müsste. Im Diabetes-Disease-Management-Programm Therapie Aktiv sind zwei Laborwerte längst vorgesehen: die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR), berechnet aus dem Kreatininwert im Blut, und die Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR), bestimmt aus dem Harn. Beide dienen der frühzeitigen Erkennung einer chronischen Nierenerkrankung – einer häufigen, oft still verlaufenden Folge des Typ-2-Diabetes.
Im österreichweit standardisierten Dokumentationsbogen gibt es dafür eigene Eingabefelder. Technisch ist alles vorbereitet. Doch ausgerechnet diese beiden Werte müssen nicht verpflichtend dokumentiert werden. Sie bleiben optional – und damit folgenlos.
Dabei geht es um mehr als um Dokumentation: Früh erkannt, lässt sich das Fortschreiten der chronischen Nierenerkrankung verlangsamen – und schwerwiegende Komplikationen wie kardiovaskuläre Ereignisse oder Dialysepflicht vermeiden oder hinauszögern. Durch rechtzeitigen Therapiebeginn, gezielte Anpassungen – und Fachversorgung, wo nötig.
Menschen mit Typ-2-Diabetes zählen zur Hochrisikogruppe – und sind im Rahmen von Therapie Aktiv bereits systematisch eingebunden. Sie sind zugleich die einzige Risikopopulation, für die alle relevanten Leitlinien ein jährliches Screening auf Nierenerkrankung vorsehen.
Zwei Laborwerte: international empfohlen, national vorgesehen – und im bestehenden Programm nicht verbindlich erhoben und dokumentiert.
Das Versäumnis: Nierenerkrankung bleibt zu oft unerkannt
Bis zu 40 % der Menschen mit Diabetes mellitus entwickeln im Laufe der Zeit eine chronische Nierenerkrankung. Die Folge sind höhere Morbidität, eine deutlich gesteigerte Sterblichkeit (31,1 % innerhalb von zehn Jahren im Vergleich zu 11,5 % ohne Nierenbeteiligung) und hohe Folgekosten – insbesondere durch kardiovaskuläre Komplikationen (z.B. Hospitalisierungen) oder den späteren Bedarf an Nierenersatztherapie.
Trotz klarer Empfehlungen erfolgt keine systematische Früherkennung. Für Therapie Aktiv selbst fehlen spezifische Auswertungen – doch eine bundesweite Analyse von Abrechnungsdaten zeigt: Maximal 17 % der jährlich zu screenenden Risikopatient:innen (Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) werden tatsächlich auf das Vorliegen einer Albuminurie untersucht – der Basisdiagnostik der chronischen Nierenerkrankung.
Eine populationsbasierte Studie aus Salzburg verdeutlicht die Dimension der Dunkelziffer: Während 75 % der Betroffenen ihre Diabetesdiagnose kennen, wissen nur 3,7 % von ihrer Nierenerkrankung (Paracelsus 10.000, ÖGHN Poster 2024, M. Franzen).
Die medizinische Empfehlung ist klar – doch eine systematische Umsetzung fehlt.
Das Potenzial: Bestehende Struktur, gezielte Optimierung
Das Disease-Management-Programm Therapie Aktiv erreicht derzeit rund 136.000 Menschen (Stand: 02.05.2025) mit Typ-2-Diabetes. Der zentrale, IT-gestützte Dokumentationsbogen (S. 74) wird österreichweit genutzt. Die Felder für die beiden relevanten Laborwerte – eGFR und Albumin-Kreatinin-Ratio – sind bereits vorhanden. Technisch müssten die beiden bestehenden Felder lediglich – wie die restlichen im Dokumentationsbogen – als verpflichtend definiert werden. Kein neues Tool, keine neue Infrastruktur – nur eine Entscheidung.
Die vorgeschlagene Änderung: Wer im Rahmen von Therapie Aktiv abrechnen will, muss diese beiden Laborwerte jährlich erfassen und dokumentieren. So wie es für andere Parameter längst der Fall ist.
Der Aufwand: minimal, integriert, längst empfohlen
Die Erhebung der Werte erfolgt im Rahmen der ohnehin vorgesehenen Jahresuntersuchung (Folgedokumentation). Das Labor holt die Proben routinemäßig ab – Blut wie Harn. Teilweise wird Harn vor Ort analysiert, allerdings oft mit Teststreifen geringer diagnostischer Aussagekraft. Die empfohlene Laboranalyse (quantitative Bestimmung von Kreatinin und Albumin im Spontanharn) ist bundesweit abrechenbar (in der Steiermark derzeit noch begrenzt auf drei Institute), medizinisch sinnvoll und organisatorisch etabliert.
Die Berechnung der eGFR erfolgt automatisiert durch das Labor – ebenso die Bestimmung der UACR. Die verpflichtende Eintragung dieser beiden Laborwerte in den bestehenden Dokumentationsbogen wäre eine formale Ergänzung – der tatsächliche Mehraufwand in der Praxis: wenige Sekunden.
Die jährliche Bestimmung bei negativem Befund sowie eine engmaschigere Kontrolle bei bestehender chronischer Nierenerkrankung sind laut offiziellem Arzthandbuch von Therapie Aktiv (Langversion, S. 77-81; Kurzversion, S. 29-31) seit langem vorgesehen. Auch für jene Patient:innen, bei denen tatsächlich eine chronische Nierenerkrankung festgestellt wird, ist laut Arzthandbuch eine strukturierte Begleitung vorgesehen – von der Differentialdiagnostik der Nierenerkrankung bis hin zur gegebenenfalls notwendigen Indikationsstellung zur Mitbetreuung durch Nephrolog:innen.
Genau für diese Art von Versorgungssystematik wurde Therapie Aktiv konzipiert.
Was fehlt, ist nicht das Wissen – sondern die Verbindlichkeit.
Die Evidenz: wissenschaftlich fundiert, breit getragen
Nationale Leitlinien (ÖDG) und internationale Empfehlungen (u.a. ADA/KDIGO Consensus, ADA, AHA, ESC) fordern die jährliche Bestimmung von eGFR und UACR bei Menschen mit Diabetes mellitus. Beide Parameter ermöglichen nicht nur die frühzeitige Erkennung der Nierenerkrankung, sondern tragen auch zur kardiovaskulären Risikostratifizierung bei – ein Gewinn für Sekundärprävention und Therapie. In England ist die jährliche UACR-Bestimmung bei Typ-2-Diabetes ein von NICE empfohlener Qualitätsindikator (S. 27) – zuletzt mit einer Erfassungsrate von 57,8 % (National Diabetes Audit 2023/24).
Die teilweise noch übliche Verwendung von Teststreifen zur Albuminbestimmung ist überholt. Ihre geringe Sensitivität führt zu falsch-negativen Befunden – und damit zu verpassten Diagnosechancen.
Die Kosten: niedrig – verglichen mit dem Nutzen
Internationale Bewertungen zeigen: Das Screening auf chronische Nierenerkrankung bei Hochrisikogruppen wie Menschen mit Diabetes wirtschaftlich ist. So hält NICE in seiner Kosten-Nutzen-Bewertung fest: „The cost-effectiveness evidence suggests that testing for CKD in high-risk groups (such as those with hypertension or diabetes) is highly cost-effective.“ (S. 116). Ähnliche Ergebnisse zeigen auch Bewertungen von Komenda et al. (2014) und Yeo et al. (2024).
Für Österreich bedeutet das konkret: Die jährlichen Mehrkosten für die verpflichtende Labordiagnostik würden maximal 530.000 Euro betragen (basierend auf den aktuellen Labortarifen, z. B. Wien: 3,92 Euro pro Patient:in). Diese Summe bezieht sich ausschließlich auf die Harnanalytik. Die Blutuntersuchung auf Kreatinin zur Berechnung der eGFR ist bereits verpflichtend und verursacht keine zusätzlichen Kosten. Dem gegenüber stehen erhebliche Einsparpotenziale: vermiedene Spitalsaufenthalte, weniger kardiovaskuläre Ereignisse, verzögerter oder vermiedener Dialysebeginn.
Die Umsetzung: zentralisiert, steuerbar, qualitätssichernd
Die Dokumentation erfolgt in einem bundesweit zentralisierten IT-System. Der Dokumentationsbogen ist bekannt, strukturiert und flächendeckend implementiert. Die Umstellung auf verpflichtende Eintragung der beiden Werte in die bestehenden Felder erscheint aus heutiger Sicht technisch unaufwendig und kurzfristig realisierbar.
Auch abrechnungstechnisch ist die Maßnahme kompatibel mit bestehenden Routinen: Die Jahresvisite bleibt unverändert – ergänzt um zwei systematisch dokumentierte Laborwerte, die medizinisch empfohlen sind und auch aus wirtschaftlicher Sicht geboten erscheinen.
Fazit: Kleine Änderung, große Wirkung
Die verpflichtende Erhebung von eGFR und UACR in Therapie Aktiv ist eine Maßnahme, die gleich drei Kriterien erfüllt: Sie ist medizinisch notwendig, wirtschaftlich sinnvoll und organisatorisch machbar.
Sie nutzt bestehende Infrastruktur. Sie folgt evidenzbasierten Leitlinien. Sie schützt Patient:innen vor vermeidbaren Endpunkten. Und sie beweist: Nicht alles, was Versorgung verbessert, ist kompliziert.
Manchmal reicht es, eine Option zur Verpflichtung zu machen – damit aus Programmlogik Versorgungspraxis wird.
Die Umsetzung wäre möglich – entschieden wurde bislang dagegen.
Der zugrundeliegende Vorschlag wurde im Rahmen eines strategischen Versorgungsprojekts mit der Österreichischen Gesellschaft für Nephrologie (ÖGN) entwickelt – getragen von der gemeinsamen Zielsetzung, bestehende Versorgungslücken systematisch zu schließen.
Status: Vorschlag eingebracht (April 2024), diskutiert – bislang nicht umgesetzt.
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