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Volkskrankheiten in Österreich: Zentral steuern – aber wirksam

Volkskrankheiten in Österreich: Zentral steuern – aber wirksam
Photo by Towfiqu barbhuiya / Unsplash

Volkskrankheiten wären besser versorgbar. Doch zersplitterte Zuständigkeiten und eine querliegende Finanzierungslogik verhindern, dass ambulante Versorgungsprogramme skalieren. Was fehlt, ist zentrale Steuerung – verbindlich, wirksam.

Fragmentierte Zuständigkeiten

Föderalismus und Selbstverwaltung gelten als Grundpfeiler des österreichischen Gesundheitssystems. Sie sollen effiziente regionale Steuerung, Ausgleich zwischen Partnern und Bürgernähe ermöglichen.

Doch bei der ambulanten Versorgung von Volkskrankheiten zeigen sich strukturelle Grenzen: Wenn fragmentierte Zuständigkeiten verhindern, dass Menschen rechtzeitig und effizient versorgt werden, ist zentrale Verantwortung gefragt – und die müsste primär auf Bundesebene verankert sein.

Sichtbare Versorgungslücken

Gerade bei Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck und chronischer Nierenerkrankung wird deutlich: Die Versorgung hat Lücken.

  • Diabetes mellitus: Österreich hat laut Bericht des Rechnungshofes (2019) unter mehr als 30 OECD Staaten die dritthöchste Rate an Spitalsaufnahmen bei Menschen mit Diabetes sowie die dritthöchste Rate an Amputationen.
  • Bluthochdruck: Laut Österreichischem Blutdruckkonsens 2019 erreichen nur rund 40 % der behandelten Patient:innen normwertige Blutdruckwerte.
  • Chronische Nierenerkrankung: Laut Paracelsus-10.000-Studie kennen nur 3,7 % der Betroffenen ihre Diagnose (Quelle: Poster ÖGHN 2024).

Das bedeutet nicht nur vermeidbares individuelles Leid, sondern auch unnötig hohe Folgekosten für das Gesundheitssystem.

Viele dieser Versorgungslücken wären mit gut aufgesetzten, bundesweit skalierbaren Versorgungsprogrammen adressierbar. Doch gerade hier zeigt sich, wie stark Struktur- und Steuerungsdefizite wirken. Was fehlt, ist ein verbindliches Programmgerüst, das guten Willen in Routine verwandelt.

Versorgungsprogramme: Wo gute Ansätze scheitern – und warum

Insellogik

In Österreich entstehen neue ambulante Versorgungsprogramme vorwiegend über Pilotprojekte in Modellregionen und werden danach schrittweise auf Landesebene und teilweise darüber hinaus ausgerollt. Ein direkter Aufbau bundesweit gültiger Versorgungsprogramme – auf Basis wissenschaftlicher Evidenz und Bedarfslage – erscheint strukturell praktisch ausgeschlossen.

Lokale Innovationsinitiativen sind grundsätzlich positiv zu bewerten, da sie im Sinne einer besseren Versorgung Patient:innen unmittelbaren Nutzen bringen. Gleichzeitig zeigen sich dabei aber auch strukturelle Grenzen:

  • „Therapie Aktiv“, das einzige bundesweit verfügbare Disease-Management-Programm (DMP), erreicht trotz Existenz seit 2007 nur etwa ein Viertel der Menschen mit Typ-II-Diabetes. Die Teilnahmequote der Ärzt:innen liegt österreichweit bei lediglich 17 %, in Wien und Tirol sogar nur bei 10% bzw. 8%. (Quelle: Zielsteuerungsvertrag 2024-2028, S. 63)
  • Programme für Herzinsuffizienz (z.B. "HerzMobil") und Demenz bleiben auf wenige Bundesländer beschränkt. Beim Ausrollen auf weitere Bundesländer vergehen Jahre.
  • Für andere Volkskrankheiten, etwa die chronische Nierenerkrankung, gab es erste Pilotprojekte (z.B. in Steiermark, Vorarlberg und Kärnten), die trotz steigender Krankheitslast – mit Ausnahme Kärntens – aktuell nicht mehr betrieben werden.

In einem strukturell fragmentierten System bleiben Pilotprojekte oder ausgerollte Versorgungsprogramme oft Inseln lokaler Innovation – nicht weil es an Erkenntnissen fehlt, sondern weil niemand den Auftrag hat, sie systematisch weiterzuentwickeln und zu skalieren. Auf Bundesebene fehlt eine klare institutionelle Verantwortung, um erfolgreiche Modelle aus den Regionen zu bündeln, weiterzuentwickeln und verbindlich in Versorgungsaufträge zu überführen. Die Zielsteuerung Gesundheit könnte dies leisten – doch sie setzt auf Einstimmigkeit zwischen Sozialversicherung, Ländern und Bund. Wo jeder mitreden darf, aber niemand entscheiden muss, gerät Skalierung zum politischen Stillstand. Statt strategischer Weiterentwicklung entsteht ein Flickenteppich regionaler Angebote – geprägt von lokalen Interessen, trägen Abstimmungsprozessen und struktureller Unverbindlichkeit.

Finanzierungsfalle

Eine zentrale Ursache für die begrenzte Etablierbarkeit adäquater ambulanter Versorgungsprogramme liegt in der sektoralen Trennung der Finanzierung: Ambulante Versorgungsprogramme erfordern Investitionen der Sozialversicherungsträger, während die daraus resultierenden Kosteneinsparungen primär im stationären Bereich entstehen – finanziert vorwiegend durch die Bundesländer.

Das Beispiel „Therapie Aktiv“ zeigt diese Systemlogik deutlich: Rund 90 % der nachgewiesenen Einsparungen betreffen den stationären Bereich (Quelle: Berghold und Riedl, S.14). Die notwendige Vorfinanzierung ambulanter Versorgungsprogramme wird dadurch strukturell entwertet.

Solange keine sektorenübergreifende Anreizlogik etabliert wird, bleibt die Versorgung von Volkskrankheiten strukturell unteroptimiert – und die Ausweitung erfolgreicher Modelle auf andere Bundesländer erschwert.

Die sektorale Finanzierungslogik ist damit kein Nebenaspekt, sondern einer der zentralen Gründe, warum verbindliche bundesweite Vorgaben für die Versorgung unerlässlich sind: Ohne klare Steuerung bleiben Akteure rational zögerlich – denn sie sollen Investitionen leisten, deren Nutzen überwiegend außerhalb ihrer eigenen Budgetverantwortung entsteht.

Skalierungsdefizit

Viele der bestehenden Programme sind zudem nicht so aufgesetzt, dass sie reibungslos in die kassenfinanzierte Routineversorgung integriert werden können. Häufig fehlen:

  • klare Aufgabenverteilungen,
  • praxistaugliche Umsetzungspfade,
  • transparente Planungsgrundlagen,
  • unterstützende E-Health-Komponenten,
  • effektive Anreizsysteme für teilnehmende Ärzt:innen.

Die niedrigen Teilnahmequoten – etwa bei „Therapie Aktiv“ – spiegeln daher nicht nur Umsetzungsdefizite in den Regionen wider, sondern auch ein fehlendes strukturelles Design für Breitenwirksamkeit.

Was fehlt, ist ein skalierbarer Versorgungsprogramm-Aufbau, der eine flächendeckende Umsetzung tatsächlich ermöglicht – mit nachweislich funktionierender Umsetzung medizinischer Kernaufgaben entlang des Versorgungspfades: von der strukturierten Früherkennung über gezielte Therapieangebote in der Primärversorgung bis hin zur spezialisierten Fachversorgung.

Damit das gelingt, braucht es definierte Verantwortlichkeiten, realistisch kalkulierten Aufwand und planbar hinterlegte Ressourcen – nicht nur auf dem Papier, sondern im Versorgungsalltag.

Reformstillstand

Selbst nationale Initiativen konnten die skizzierten strukturellen Defizite der bestehenden Versorgungsprogramme bisher nicht nachhaltig überwinden. Weder die Entwicklung der Österreichischen Diabetes-Strategie (2017) noch der Bericht des Rechnungshofs (2019) führten zu substantiellen Verbesserungen im Programm „Therapie Aktiv“.

Auch das im September 2023 veröffentlichte Rahmenkonzept Integrierte Versorgung Diabetes mellitus Typ 2 der Zielsteuerung-Gesundheit wirkt derzeit eher als Reaktion auf anhaltende Kritik denn als Ausdruck eines aktiven Steuerungswillens bzw. einer Reformverantwortung auf Bundesebene. Zwar adressiert es den Bedarf an einem sektorübergreifenden Versorgungsprozess, doch zentrale Vorgaben bleiben abstrakt. Eine systematische Herleitung des Versorgungsbedarfs sowie eine präzise Klärung von Aufgaben und Steuerung stehen weiterhin aus.

Auch evidenzbasierte Verbesserungsvorschläge medizinischer Fachgesellschaften zur Optimierung von „Therapie Aktiv“ an die Träger werden nur begrenzt berücksichtigt.

Die Folge: Strategien und Prüfberichte dokumentieren bestehende Versorgungsdefizite – ohne dass sie systematisch behoben werden.

Steuerungsvakuum

Trotz der bekannten Defizite bleibt die strukturelle Reaktion auf Bundesebene zögerlich. Der aktuelle Zielsteuerungsvertrag sieht zwar vor, bis Ende 2026 zentrale Rahmenbedingungen zur Umsetzung der aktuell vorliegenden Konzepte zur integrierten Versorgung des Diabetes mellitus Typ II und der Herzinsuffizienz zu entwickeln und ab 2027 auf Landesebene umzusetzen – bleibt in seiner Formulierung jedoch weitgehend abstrakt.

Solange auf Bundesebene keine klare Bereitschaft besteht, verbindlich wirksame Vorgaben für Versorgungsprogramme zu definieren, deren Umsetzung systematisch zu überwachen und auf Basis von Ergebnissen weiterzuentwickeln, bleiben substanzielle Fortschritte der ambulanten Versorgungsqualität unwahrscheinlich.

Zentrale Steuerung ‒ Schlüssel zur Skalierung

Zentrale Steuerung darf nicht bei abstrakten Rahmenpapieren enden sondern muss auf operative Wirksamkeit ausgerichtet sein. Sie braucht klare fachliche Vorgaben, planbare Umsetzung und überprüfbare Konsequenzen. Folgende Bausteine sind entscheidend:

Versorgungsstandards mit messbaren Zielen

Für jede große Volkskrankheit müssen mit den relevanten medizinischen Fachgesellschaften bundesweit einheitliche, evidenzbasierte Versorgungsstandards definiert und regelmäßig aktualisiert werden, die

  • den gesamten Versorgungspfad abbilden – von der strukturierten Früherkennung in der Primärversorgung bis zur spezialisierten Fachversorgung,
  • konkrete Outcome‑Ziele festlegen, z. B. chronische Nierenerkrankung: eGFR + Albumin-Kreatinin-Quotient mindestens jährlich bei ≥ 80 % der Menschen mit Diabetes, Überweisungsquote Stadium G4, G5, A3 ≥ 80 %

Diese Standards dienen als operatives Fundament für Steuerung, Monitoring und Finanzierung.

Versorgungsaufträge & planbare Ressourcen

Die Standards müssen in verbindliche Versorgungsaufträge übersetzt werden – mithilfe von Aufgabenprofilen und der Leistungsmatrix - ambulant im ÖSG. Zusätzlich müssen diese Versorgungsaufträge im ÖSG mit sinnvollen Planungsrichtwerten unterlegt und in der regionalen Planung (RSG) mit konkreten Personal‑ und Leistungskontingenten operationalisiert werden. Ohne hinterlegte Ressourcen bleibt Versorgung bloße Absicht.

Monitoring mit steuerungs­wirksamen Folgen

Es bedarf wirksamer Monitoring- und Sanktionsmechanismen, damit die Einhaltung der Standards nicht dem Zufall überlassen bleibt. Ein öffentlich zugängliches Outcome-Dashboard muss die Umsetzungsstände transparent machen und vergleichbar halten. Darüber hinaus können Bonus-Malus-Mechanismen oder gezielte Steuerungsreserven im Finanzausgleich dazu beitragen, Erfolge gezielt zu honorieren und Versäumnisse spürbar zu machen.

Systemisch verstärken: Finanzierung als Skalierungshebel

Die drei beschriebenen Elemente – Versorgungsstandards, Versorgungsaufträge und Monitoring – würden bereits heute Wirkung entfalten, wenn sie konsequent umgesetzt würden. Doch solange ambulante Investitionen von einem Akteur getragen werden müssen, während die Einsparungen überwiegend in einem anderen Sektor anfallen, bleibt breite Skalierung strukturell erschwert.

Was helfen würde, ist die seit langem diskutierte "Finanzierung aus einer Hand", die Investitionsverantwortung und Nutzenpotenzial zusammenführt. Denkbar sind auch spezifische Shared-Savings-Fonds für ausgewählte Volkskrankheiten wie Diabetes, Herzinsuffizienz oder chronische Nierenerkrankung.

Zentrale Steuerung kann auch ohne neue Finanzierungslogik wirksam sein – mit ihr aber wird sie flächendeckend skalierbar.

Fazit: Ohne wirksame Steuerung bleibt Versorgung Flickwerk

Gerade bei Erkrankungen mit hoher Prävalenz und hohem Risiko für Spätfolgen – wie Diabetes mellitus oder chronischer Nierenerkrankung – reichen allgemeine Grundsätze nicht aus.

Ein Gesundheitssystem, das den Erfolg seiner Versorgung weder klar definiert noch verbindlich absichert, verspielt langfristig seine Glaubwürdigkeit – und das Vertrauen der Patient:innen.

Nur eine wirksam aufgesetzte zentrale Steuerung kann in Österreich gewährleisten, dass Versorgungserfolge bei Volkskrankheiten flächendeckend Realität werden.

Zielsteuerung heißt: Verantwortung operationalisieren.
Alles andere bleibt Konzept – statt Versorgung.